Neue Glocken für Magedeburg: Stimme der Stadt

2022-11-15 16:56:09 By : Ms. Ada Yu

Warum sehe ich FAZ.NET nicht?

Permalink: https://www.faz.net/-gyg-az3j0

8. November 2022 · Nach mehr als 300 Jahren wurde 2022 wieder eine neue Glocke für den Dom zu Magdeburg gegossen. Es war der Auftakt für ein ambitioniertes Projekt: Die Kirche soll wieder ein repräsentatives Geläut aus zwölf Glocken bekommen.

Heiß und anstrengend ist der Weg zur Liebe. In der dämmrigen Arbeitshalle toben die Flammen des Gießofens orangerot im Wettstreit mit der Sonne, die an diesem Freitag im September 2022 vom Himmel brennt. Am Morgen haben Nicolai Wieland und seine Mitarbeiter der Glockengießerei Bachert in Neunkirchen am Neckar die Ölbrenner angeschaltet. Seither hat das Feuer acht Tonnen Bronze erwärmt, ist die Legierung aus 78 Prozent Kupfer und 22 Prozent Zinn geschmolzen. Aus der flüssigen Bronze soll heute die Kirchenglocke Amemus gegossen werden. „Lasst uns lieben“ heißt der lateinische Name auf Deutsch. Die „Glockenspeise“ ist nun rund 1100 Grad Celsius heiß, bald kann gegossen werden. 

Magdeburg, zehn Wochen zuvor: Morgenlicht fingert im Dombezirk zwischen Laub und den hoch aufragenden Türmen der gotischen Kathedrale hindurch. Ruhig liegt das gewaltige Kirchenschiff da, bevor die ersten Touristen die 1363 geweihte Grabkirche des Kaiserpaars Otto I. und Editha besuchen. Seit 1567 ist der Dom evangelisch. Johannes Sattler, Carsten Sussmann und Rainer Kuhn betreten den Dom, die drei gehören zu einer Gruppe, die Großes vorhat: Der Dom soll wieder ein repräsentatives Geläut bekommen. Dazu gehört die 5,8 Tonnen schwere Amemus. Es sollen aber künftig zwölf Glocken im Dom erklingen, dann als eines der größten Geläute Europas mit 42 Tonnen Gewicht. Mehr als 300 Jahre sind vergangen, seit die letzte neue Glocke für den Dom von Magdeburg gegossen wurde, der großen Reichsstadt und Zentrum der Reformation im 16. Jahrhundert.

Zurück an den Neckar: Es ist mittlerweile 15 Uhr – nach biblischer Überlieferung die Todesstunde Jesu. Im Handwerk der Glockengießer ist das die etablierte Gusszeit für Kirchenglocken. Aber im Zweifel übertrumpft die Metallurgie die Tradition. Erst wenn das flüssige Metall im Ofen den perfekten Zustand erreicht hat, beginnt der Guss. Von der Form für das gewaltige In­strument, in welche die Bronze später fließen soll, ist nichts zu sehen – sie steht tief in der Gießgrube unter einer dicken Schicht aus Sand. Nun tragen drei Männer in silbernen Hitzeschutzanzügen einen schlanken Baumstamm zum Ofen, tauchen das Holz in die Flüssigkeit. Funken sprühen, kritisch blickt der Glockengießer durch sein Visier auf das glühende Geschehen vor ihm. „Das Bewegen der Glockenspeise mit dem trockenen Fichtenstamm ist Teil des traditionellen Prozesses“, erläutert er. Als der Stamm aus dem Ofen gezogen wird, dampft vorn ein verkohlter Holzstumpf. Noch einmal ziehen sie eine Probe mit der langstieligen Kelle, lassen die glühende Bronze auf dem Hallenboden abtropfen und erkalten. Und schließlich nimmt unter dem aufmerksamen Blick der Besucher das Schauspiel seinen Lauf, der Guss beginnt. Intensiv leuchtend rinnt die Bronze durch die Gusskanäle, läuft in die Form. Gießgase schießen bunt flammend aus den Entlüftungsrohren nach oben. Dann ist der Guss abgeschlossen. Nun wird die neue Glocke über Tage hinweg im Boden abkühlen. Erst dann können die Gießer endgültig beurteilen, ob das Werk gelungen ist.

Geplant wird das neue Geläut seit 2019. Damals war die beschädigte Glocke Dominica aus dem Turm gehoben und in der Glockenschweißerei Lachenmeyer in Nördlingen repariert worden. 1575 von Eckehart Kucher aus Erfurt gegossen, wird sie im Dom präsentiert und weist eindrucksvoll auf das Großprojekt hin: Neben der Amemus sollen bis 2025 sieben weitere Glocken neu gegossen werden. Nur vier historische Glocken des Magdeburger Doms sind erhalten geblieben.

Ein Vorhaben dieser Größe hat über Deutschland hinaus absoluten Seltenheitswert. „Wir wollen dem Dom und damit der Stadt den Klang zurückgeben“, sagt Johannes Sattler. Der Elektroingenieur gehört dem Vereinsvorstand an, der sich um das Projekt kümmert. Jetzt steht er gemeinsam mit Dombauleiter Carsten Sussmann und dem Archäologen Rainer Kuhn an der reparierten Glocke. Für Laien sind die Spuren der Restaurierung an der Glockenkrone kaum zu sehen – die Nördlinger Experten haben ganze Arbeit geleistet.

Und seit dem vergangenen Wochenende ist die Dominica nicht mehr allein im Dom: Der Guss der Amemus ist gelungen, noch vor dem Reformationstag am 31. Oktober wurde die zweitschwerste Glocke des künftigen Geläuts während einer Feierstunde – unter anderem mit Landesbischof Friedrich Kramer – im Dom präsentiert. Zeit spielt eine relative Rolle, wenn es um Kirchenglocken geht: Die älteste erhaltene Magdeburger Glocke ist die Orate aus dem 13. Jahrhundert. Der Archäologe Kuhn hat die Erforschung der Domgeschichte mit Ausgrabungen seit 1998 im Außenbereich und von 2006 bis 2010 im Innern der gotischen Kathedrale geleitet. Auch die Biographie der Magdeburger Domglocken kennt Kuhn, erzählt von jenem Brand am Karfreitag 1207, als die Glocken des romanischen Vorgängerbaus zu Boden stürzten – bis auf eine. Das Wissen für den Guss der Glocken für den neuen Dom war damals in der Stadt vorhanden. „Die Magdeburger Bronzetechnologie war im 13. Jahrhundert führend“, erklärt er.

Viele Handgriffe der damaligen Gießer würden Nicolai Wieland und seine Mitarbeiter wohl wiedererkennen. Denn die Arbeit heutiger Glockengießer verbindet moderne Metallurgie und Gießereitechnik mit jahrhundertealten Verfahren der Planung und des Formenbaus. Zunächst entwirft ein Glockengießer den Längsschnitt der späteren Glocke, die sogenannte Rippe. Sie gibt den Klang des Instruments auf das Sechzehntel eines Halbtons genau vor. Deshalb war es so wichtig, das komplette Geläut des Magdeburger Doms zu planen und aufeinander abzustimmen, bevor mit dem Guss neuer Glocken begonnen wurde. Umgesetzt wird der Entwurf mit dem sogenannten Lehmschablonenverfahren: Der Fachmann überträgt die Silhouette der Rippe auf eine Holztafel, sägt dann die innere Linie aus. Die Form wird nun senkrecht stehend mit Scharnieren als rotierende Schablone montiert. Unter ihr wächst in Handarbeit der Kern der späteren Gussform, modelliert aus Lehm mit Zuschlägen. Traditionell nimmt man Rinderhaar und Pferdemist. Ist die Form getrocknet, bekommt sie einen Überzug aus Talg als Trennschicht. Zwischenzeitlich ist die zweite Linie der Schablone ausgesägt worden. Sie dient nun als Lehre für die sogenannte „falsche Glocke“, die ebenfalls aus Lehm gebaut wird.

Darauf wird das künstlerische Dekor montiert, die aus Wachs modellierte „Glockenzier“. Es folgen die Krone und eine weitere Talgschicht, dann schließlich der Mantel. Nun trocknet die komplette Komposition. Bei Bachert werden dabei wie in den meisten Glockengießereien Gasbrenner eingesetzt. Nach der Trockenzeit hebt man vorsichtig den Mantel mit einem Kran ab, zerschlägt die „falsche Glocke“ und setzt den Mantel wieder auf. So entsteht die Gießform als Hohlkörper. Eine Besonderheit der Amemus war der Bau der Gussform direkt in der Grube, sagt Nicolai Wieland. Das war der Größe und dem Gewicht der Glocke geschuldet. Die Formen kleinerer Glocken werden für gewöhnlich auf dem Boden der Werkhalle gebaut. Als gewaltiges Finale des Projektes ist die rund 14 Tonnen schwere Credamus geplant. Sie ist erst recht eine Kandidatin für den unterirdischen Bau. Für den Guss wird man bei Bachert sogar beide Öfen parallel anfeuern – eine Premiere.

Im September nahm eine Delegation aus Magdeburg am finalen Guss teil, sie verfolgte den Ablauf gebannt, wenn auch mit sicherem Abstand. Für das Projekt, getragen von bürgerlichem Engagement, ist der Guss ein großer Moment. Künftig wird der Dom im Innenstadtbezirk wieder eine wohlklingende, vielstimmige Soundscape erzeugen.

Ob es genauso klingt wie das historische Geläut mit vermutlich bis zu 14 Glocken? Das lässt sich nicht sagen, denn exakte Informationen über die alten Glocken sind nicht überliefert. Mit den Glocken allein ist es auch nicht getan. Es brauche auch die entsprechende Infrastruktur, erklärt Dombauleiter Sussmann – insbesondere die Glockenstühle, an denen die Instrumente aufgehängt werden. Der Bauingenieur ist nicht von der Kirche angestellt, sondern wird als externer Experte für alle Aspekte der Dombauleitung beauftragt.

Zur Planung des neuen Geläutes gehörten auch schwingungstechnische Untersuchungen der beiden Westtürme. Der nördliche Turm trägt heute die noch erhaltenen Glocken. Sein historischer Glockenstuhl soll durch eine Neukon­struktion aus Eichenholz passend ergänzt werden. Im derzeit leeren Südwestturm muss der Glockenstuhl komplett neu gebaut werden. Einen für die Stadtgeschichte wichtigen Auftritt werden die Glocken im Jahr 2031 haben. Dann erinnert Magdeburg an die Zerstörung der Stadt vor 400 Jahren im Dreißigjährigen Krieg (1618 bis 1648). Dazu soll auch der Dom seine Stimme wieder erheben – mit dem kompletten neuen Geläut aus zwölf Glocken, inklusive der großen Credamus, die wohl deutlich mehr als eine halbe Million Euro kosten wird.

Neue Glocken für Magedeburg: Stimme der Stadt

Neue Glocken für Magedeburg

Nach mehr als 300 Jahren wurde 2022 wieder eine neue Glocke für den Dom zu Magdeburg gegossen. Es war der Auftakt für ein ambitioniertes Projekt: Die Kirche soll wieder ein repräsentatives Geläut aus zwölf Glocken bekommen.

Ein Fehler ist aufgetreten. Bitte überprüfen Sie Ihre Eingaben.

Vielen Dank Der Beitrag wurde erfolgreich versandt.